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André Grieder

In der Gegenwartskunst liegt der Zauber

Ein Zauberer schreibt mir. Er will in unser Angebot. Ich sah ihn einmal zaubern. Zwischen Hauptgang und Dessert kam er an meinen Tisch, liess Karten verschwinden und Münzen auftauchen. Ich war beeindruckt.

Leider, antworte ich dem Zauberer, können wir Sie nicht in unser Angebot aufnehmen. Wir vermitteln Künste, nicht Kleinkunst. Er entgegnet: Ich zaubere nicht nur, sondern spiele Theater und erzähle die Geschichte einer Magierdynastie.

Der Zauberer tritt in einer Primarschule auf. Ich bin auch dort. Er unterhält die Schüler_innen gut und kann sie für seine Kunst gewinnen. Tage später melde ich mich bei ihm: Wir programmieren hauptsächlich zeitgenössisches, assoziatives Theater. Ihr Stück passt nicht in unser Angebot. Leider nochmals nein.

Warum vermitteln wir nicht vorwiegend traditionelle, kanonisierte, eingängige, unterhaltende, schöne Künste? Also Künste, die Kindern leuchtende Augen bescheren und Jugendlichen eine Flucht aus der Wirklichkeit?

Moderne Kunst ist subjektiv, komplex, assoziativ. Sie spiegelt unsere Welt. Junge Menschen sollen an der Welt teilhaben. Indem sie «Strange Days Indeed» vom Jungen Theater Basel sehen. Jugendliche tanzen darin dieses Thema: Wer heute wahrgenommen werden will, muss schreien – in der Politik, in der Werbung, in den Medien, im Alltag. Das Stück liefert keine Antworten, stellt nur Fragen, ruft nach Reflexion und Kritik. «Strange Days Indeed» ist offen, störend, überraschend. Gegenwartskunst eben. Sich mit ihr auseinanderzusetzen, kann jungen Menschen Identität stiften (Prinzip der Alterität). Kleinkunst bestätigt eher das Bekannte, fordert kaum Selbstreflexion und Selbstkritik.

Wir vertrauen unserem Geschmack und unserer Erfahrung und urteilen subjektiv darüber, was vermittlungswürdige Kunst ist. Wir bemühen uns, diese Kunst nicht zu instrumentalisieren und zu pädagogisieren, damit sie Kunst bleiben kann. Wir arbeiten selbstkritisch, selbstreflexiv und flexibel. Das ist unsere Haltung. Sie gibt uns argumentativ Halt, wenn wir «Strange Days Indeed» vermitteln. Der Zauberer war schauspielerisch nicht präsent genug, sein Stück hatte dramaturgische Schwächen, und an entscheidenden Stellen versagte die Technik. Darunter litt seine Magie: Dinge verschwinden und auftauchen zu lassen. Das Stück ohne diese formalen Mängel hätten wir den Schulen vielleicht angeboten. Als moderne Zauberkunst.

André Grieder leitet die Abteilung  Schule und Kultur im Volksschulamt der Bildungsdirektion des Kantons Zürich.

Urs Rietmann

Kunst Unternehmen.

«Mit einer Hand lässt sich kein Knoten knüpfen.» (Mongolische Weisheit)

Der Titel des Creaviva-Formats für Teams aus Wirtschaft, Lehre und Verwaltung kann verschieden ausgelegt werden. Kunst lässt sich unternehmen. Und/oder: Das verantwortungsvolle, gemeinschaftliche und auf Solidarität zielende Führen einer Unternehmung ist eine anspruchsvolle Aufgabe.

In der Beratung von am Angebot Interessierten weisen wir, die wir uns in keiner Weise als Fachleute in Organisationsentwicklung oder Supervision verstehen, explizit auf die Charakteristik des Angebots hin. Wir verkaufen das Creaviva nicht als Förderungsanstalt von Persönlichkeitsmerkmalen, die Kunstschaffenden zugeschrieben oder als Wirkungen der Beschäftigung mit Kunst verstanden werden. Auch geht es in unseren Ateliers, obwohl das spannend wäre, nicht um die Strategieanalyse von Künstler_innen als Selbstunternehmer_innen.

Uns interessiert es, einen Rahmen zu schaffen, der es erlaubt, durch die gestalterische Werkstattarbeit die in einem Team vorhandenen Muster und Gewohnheiten für ein paar Stunden zu überwinden. Die Kunst ist dabei insofern ein hervorragendes Mittel zum Zweck, weil durch die unmittelbare Nähe zu ihr in einem Museum eine produktive Verunsicherung und eine Bereitschaft des sich Einlassens entstehen, welche unter vertrauteren Umständen kaum möglich wären. Dass im Creaviva primär pädagogisch begabte Künstler_innen arbeiten und nicht kunstaffine Pädagog_innen, verstärkt diesen Umstand.

Das von uns vorgegebene Auftragsspektrum, für das wir unser Angebot als geeignet betrachten, umfasst vor allem die Anliegen Visualisierung (z.B. eines Leitbilds), Verankerung (z.B. von Kernbotschaften), Fördern des Teamspirits und das gestalterische «Hand in Hand» eines bestehenden oder entstehenden Teams.

In der Formulierung von weitergehenden Wirkungsabsichten halten wir uns zurück. Ein vorrangiges Ziel unserer praxisorientierten Kunstvermittlung ist das Ermöglichen von Kompetenzerfahrungen. Dabei geht es nicht darum, unseren Gästen einzureden, dass sie Künstler_innen sind. Was diese nach einem Teamworkshop als Gemeinschaftswerk nach Hause tragen, hat aber insofern disziplinspezifischen Wert, als dass das Verständnis für Kunst und der Respekt vor künstlerischer Arbeit nachhaltig begünstigt werden.

Urs Rietmann leitet das Kindermuseum Creaviva im Zentrum Paul Klee in Bern.

Natalie Tacchella

Plädoyer für eine katalytische Vermittlung

Als Beuys behauptete, «jeder Mensch ist ein Künstler», meinte er weder die Produktion noch das fachliche Können, sondern das Potential – ein Denk- und Aktionspotential und einen intimen Freiheitsraum, den man entweder brachliegen lässt oder bewirtschaftet.

Kulturvermittlung interessiert mich, wenn sie die Potentiale nicht voneinander abschirmt und Kunst sein lässt, was sie ist, nämlich ein offener Dialog zwischen Menschen.

Indem sie sich zwischen Kunst, künstlerische Praxis und Werk oder zwischen Künstler und Bevölkerung stellt, isoliert die Vermittlung das Objekt von «seinem» Publikum und verunmöglicht eine persönliche Beziehung der Person zur Kunst. Mit der Gestaltung und Umsetzung der erst nach dem Werk konzipierten Vermittlung wird begonnen, bevor das Publikum Zugang zum Werk erhält. Dadurch begründet sie – ungeachtet der Qualität der gut gemeinten Aktionen – ihre eigene Notwendigkeit, obwohl es sie eigentlich gar nicht geben dürfte. Ich möchte damit sagen, dass Kunst kein isoliertes Phänomen ist, sondern integrierender Bestandteil unserer Fantasie und der sozialen Realität.

Kunstvermittlung dürfte es nicht geben, es gibt sie aber für die meisten erhaltenen und in den geschlossenen Räumen der Theater, Museen und Konzertsäle produzierten Werke. Und zwar genau deshalb, weil diese Werke von der dominierenden Kultur vereinnahmt wurden – eine Kultur, die alles daran setzt, die Werke einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, damit sie sich nicht im Kreis drehen und langsam verloren gehen.

Der vorherrschende Diskurs drängt lähmende Modelle auf, glättet Wissen und Knowhow. Folglich stellt die Vermittlung die Verbindung zwischen Mensch und Kunst wieder her, doch diese Beziehung ist verstümmelt, ja fast schon manipuliert. Die Gefahr ist gross, dass die Vermittlung die Auffassung unterstützt, Kunst sei naturgemäss unzugänglich und könne nur durch die Arbeit von kompetenten Vermittlern zugänglich gemacht werden.

Kulturvermittlung interessiert mich, wenn sie das Publikum nicht ausschalten will und den Dialog zwischen den Menschen nicht verhindert, egal, wie hochwertig sie ist. Kulturvermittlung interessiert mich, wenn sie als Katalysator funktioniert, der weder die Richtung einer Veränderung noch die Zusammensetzung des Systems im Endstadium verändert. Ich versuche, in der Praxis eine Kulturvermittlung zu betreiben, die nicht Selbstzweck ist, sondern den direkten Dialog zwischen dem Künstler, seiner Aktion, seinen Werken und dem Publikum wiederherstellt.

Nathalie Tacchella ist Choreografin und Tanzpädagogin. Sie leitet die Tanztruppe des  estuaire in Genf, und ist Mitbegründerin und Mitverantwortliche des Genfer Theaters  Galpon. Ausserdem unterrichtet sie zeitgenössischen Tanz im Atelier Danse Manon Hotte.

Arbeitsgruppe Vermittlung, Pro Helvetia

Was wird vermittelt? Soziokulturelles Knowhow in der Kunstvermittlung

Im Fokus der Vermittlungsförderung von Pro Helvetia stehen die ver­schie­denen Kunstdisziplinen, ihre Werke, Projekte, Techniken und Institutionen. Bei der Beschäftigung mit Vermittlung entstehen aber auch Bezüge zu einem anderen Bereich, der sich in Begrifflichkeiten und Praxis oft mit der Kunstvermittlung überschneidet: die Soziokultur.

Projekte der Soziokultur und der soziokulturellen Animation setzen sich manchmal auch mit Kunst auseinander. Doch in der Regel sind sie eher auf soziale und gesellschaftliche Aspekte als auf die Auseinandersetzung mit Kunst gerichtet und unterscheiden sich dadurch von den Zielen, die Pro Helvetia mit der Förderung der Kunstvermittlung verfolgt. Auf der methodi­schen Ebene, insbesondere in der Arbeit mit spezifischen Zielgruppen, nähern sich jedoch Projekte der Soziokultur und der Kunstvermittlung oft einander an.

In der Durchführung von Vermittlungsprojekten mit interaktivem und partizipativem Ansatz sind die Kenntnisse von soziokulturellen Prozessen sogar entscheidend für den Erfolg des Projektes: Wird die Zielgruppe auf eine Weise angesprochen, die dieser entspricht? Ist das Vorhaben partner­schaftlich angelegt? Haben die Vermittler_innen entsprechende Kenntnisse und Erfahrungen? So betrachtet erweist sich soziokulturelles Knowhow als ein wichtiges Merkmal in Bezug auf die Qualität eines jeden Ver­mittlungs­projektes.

Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Vermittlung von Pro Helvetia war im Rahmen des Programms Kulturver­mittlung für die Entwicklung der Förderkriterien zuständig.